27. Apr. 2022
Philipp Albrecht, Wirtschaftsredaktor bei der REPUBLIK, einem Online-Magazine für Investigativjournalismus, analysierte in in seinem neuesten Artikel «Aufgrund der angespannten Situation …» Boykotte von westlichen Firmen vom russischen Markt.
Albrecht stellte fest, dass die meisten Firmen diesen drastischen Schritt kaum begründeten, und hinterfragte die zugrunde liegenden Motive aus der Warte der Unternehmensethik. Dazu befragte er auch den Direktor des CCRS, Dr. Philipp Aerni von der Hochschule für Wirtschaft Freiburg.
Nachfolgend Auszüge aus dem Kapitel "5. Wenn schon, dann konsequent", welche Antworten von Dr. Aerni wiedergeben:
Es stellt sich die Frage, ob eine unternehmerische Ethik, die sich mit gesellschaftlichen Werten deckt, überhaupt nötig ist.
Im Umkehrschluss heisst das: Wenn ein Unternehmen aus ethischen Gründen von sich aus aktivistisch wird, muss es auch dazu stehen. Und konsequent sein. So wie Ben & Jerry’s.
Philipp Aerni spricht im Zusammenhang mit den Russland-Boykotten von einer «Pseudo-Gesinnungsethik», die mehr mit Marketing und weniger mit Ethik zu tun habe: «Sobald dann der Entscheid getroffen wird, sich zurückzuziehen, wird alles in eine Gesinnungsrhetorik verpackt, die den Erwartungen der relevanten moralischen Anspruchsgruppen der jeweiligen Firma gerecht wird.»
Grundsätzlich seien aber Firmen besser beraten, sich nicht zu sehr von ethischen Vorstellungen der Zivilgesellschaft leiten zu lassen.
Aerni bezieht sich dabei auf die kanadische Stadtaktivistin und Sachbuchautorin Jane Jacobs, die sich auch mit Wirtschaftsethik beschäftigt hat und Anfang der 1990er-Jahre in ihrem Buch Systems of Survival eine klare Trennung zweier ethischer Systeme beschrieb.
Auf der einen Seite ist die sogenannte Wächtermoral (commercial syndrome of morality), die für Regierung und Zivilgesellschaft gilt, und auf der anderen die Händlermoral (guardian syndrome of morality), die für Wirtschaft und Wissenschaft gilt.
Die Wächtermoral beruht vor allem auf traditionellen Werten und Normen, während die Händlermoral stark auf Zuverlässigkeit, Lernbereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel setzt. Beide Systeme haben den grössten gesellschaftlichen Nutzen zum Ziel. Nur die Plätze tauschen sollten sie nicht.
Doch laut Aerni macht ausgerechnet die Lehre der Corporate Social Responsibility diese Unterscheidung nicht, da CSR implizit davon ausgehe, dass es nur eine Moral gebe, nämlich die Wächtermoral. Stülpe man diese über unternehmerische Tugenden, könnte das Innovation bremsen. Was nicht sehr empfehlenswert sei.
Die Theorie von Jacobs schliesst allerdings nicht aus, dass es für Unternehmerinnen ein Eigeninteresse gibt, Menschenrechte zu respektieren.
Dass sich Topmanager mit Menschenrechten beschäftigen, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Doch das führt auch dazu, dass viele einen Spagat zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und Händlermoral machen müssen. Darum die vorsichtige Kommunikation.
Link auf den vollständigen Original-Artikel:
https://www.republik.ch/2022/04/25/aufgrund-der-angespannten-situationAbhandlung der zentralen Elemente der Wächtermoral und Händlermoral und im folgenden Essay:
Aerni, P., 03.09.2021. Liberethica. Eine ganzheitliche Sichtweise der Ethik muss sich vom bi-polaren Denken verabschieden